Montag, 20. Dezember 2010

Vom Ländler-Sänger zum Internet-Piraten

«Mi Vater isch en Appizäller»: Der heutige Blogwerk-Chef Andreas von Gunten in den frühen 90er Jahren bei einem Auftritt der Familie Trüeb

Es ist immer wieder erstaunlich, welche Karriereschritte manche Leute hinlegen. Zum Beispiel Andreas von Gunten. Mitte der neunziger Jahre gab er bei der Ländlergruppe «Familie Trüeb» währschaftes Schweizer Liedgut zum besten wie «Mi Vater isch en Appizäller». Das vielleicht grösste Verdienst der Freiämter Truppe war die Wiederentdeckung des grossartigen Liedermachers Artur Beul, dessen zeitlose Werke «Noch em Räge schiint d'Sunne» oder «Am Himmel Stoth es Sterndli» von Gunten & Co in entstaubten Versionen unter die Leute brachten. Unterdessen hat Andreas von Gunten der Volksmusik den Rücken gekehrt, er arbeitet heute als Geschäftsführer der Firma Blogwerk. Und legte einen bemerkenswerten Gesinnungswandel hin, der demjenigen von Filippo Leutenegger – vom Maoisten zum SVP-affinen FDP-Nationalrat – in nichts nachsteht.

Wie manche Internet-Unternehmer bekundet Andreas von Gunten ein Problem mit dem Urheberrecht. In seinem Blog kritisiert er Musiker, die sich gegen Urheberrechtsverletzungen seitens der Erben des berühmten Konzertveranstalters Bill Graham wehrten, als «Vertreter der geistigen Monopolrechte». Im Kommentarfeld seines Blogs wies ich Andreas von Gunten auf seinen Denkfehler hin:

Das ist so, wie wenn ich in die Migros gehe und Lebensmittel für 200 Franken mitnehme ohne zu zahlen, und wenn der Ladendetektiv kommt, sag ich ihm: Ich bin für die Abschaffung der Lebensmittel-Monopolrechte. Oder ich gehe in die Kronenhalle und bestelle ein feudales Menü, und wenn der Kellner mit der Rechnung kommt, sag ich ihm: Ich bin für die Abschaffung der gastronomischen Monopolrechte.

Von Guntens Antwort liess nicht lange auf sich warten:

Man kann Inhalte, sprich Ideen nicht mit materiellen Produkten vergleichen. Darum ist es eben nicht dasselbe, und ich plädiere nicht dafür, in der Migros oder im Restaurant nicht für die Produkte zu bezahlen.

Ganz schön keck, doch mir leuchtet Andreas' Antwort nicht ein. Man kann nämlich geistige Werke sehr wohl mit materiellen Gütern vergleichen: Nicht nur Metzger, Bauern oder Bäcker, sondern auch die Urheber von geistigen Werken brauchen Geld, um ihre Wohnungsmiete, Nahrungsmittel, Kleider usw. zu bezahlen. Wenn aber Leute wie Andreas von Gunten postulieren, für geistige Werke müsse man nichts bezahlen, dann führt das über kurz oder lang dazu, dass niemand mehr bereit ist, geistige Werke herzustellen. Weil man damit kein Geld mehr verdienen kann. Und dann können die Internet-User auch keine geistigen Werke mehr stibitzen – weil es keine mehr gibt.

Erstaunlich ist, dass Andreas von Gunten früher selber Urheber von geistigen Werken war. Noch vor vier Jahren jubelte er in seinem Blog:

Der Vertrag von EMI ist eingetroffen, yeah!

Andreas von Guntens Kriegserklärung an das Urheberrecht ist also nicht nur unlogisch und kurzsichtig, sondern auch inkonsequent. Mit Wonne schiesst der Blogwerk-Chef gegen das Urheberrecht, aber das hindert ihn nicht daran, mit dem Erzfeind einen Vertrag abzuschliessen. Ausgerechnet mit EMI, einer der meist kritisierten grossen Plattenfirmen. Wasser predigen und Wein trinken – oder wie sagt man einem so widersprüchlichen Verhalten?

Samstag, 11. Dezember 2010

«I'm going to have me blood changed»

«Life», die neue Autobiografie von Keith Richards, bereitet mir seit einigen Tagen ein immenses Lesevergnügen. Das hat viel zu tun mit dem unnachahmlichen lockeren Plauderton, den Keith anschlägt (Tipp: unbedingt die englische Originalversion lesen. Das ist nicht einfach ein Rockbuch wie viele andere – die Sprache ist Musik). Und es hat auch viel zu tun mit den süffigen Details aus der Geschichte der Stones, die man da und dort erfährt. Erstaunlich: Fast alle Bandmitglieder kriegen ihr Fett ab. Brian Jones war ein unzuverlässiger Psychopath. Mick Taylor war eine eindimensionale, introvertierte Gestalt. Bill Wyman war ein Frauenheld, der seinen Groupies faden Tee servierte und sie nach zehn Minuten wieder wegschickte. Mick Jagger wird in der ersten Hälfte des Buches kaum erwähnt. Nur mit Charlie Watts scheint Keith Richards immer gut ausgekommen zu sein.

Leser dieses Blogs wissen es: Die Schweiz war in den 70er Jahren das einzige Land, das den genialen Drögeler Keith Richards nicht rausschmiss. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass er im Wallis Unterschlupf fand. Das war schon immer ein Terrain, das Outlaws gut gesinnt war, siehe die Farinet-Geschichte. Aus dieser Epoche möchte ich hier ein Müsterchen wiedergeben, das Keiths Erzählton schön zeigt:

«These necromantics were given a boost by the story that I went to Switzerland to get my blood changed – perhaps the one thing everybody seems to know about me. OK for Keith, he can just go and have his blood changed and carry on. It's said to have been some transaction with the devil deep under the stones of Zurich, face white as parchment, a kind of vampire attack in reverse and the rosiness returns to his cheeks. But I never changed it! That story comes from the fact that when I was going to Switzerland, to the clinic to clean up, I had to land at Heathrow and change planes. And there's the Street of Shame following me, "Hey, Keith." I said, "Look, shut the fuck up. I'm going to have me blood changed." Boom, that's it. And then off to the plane. After that, it's like it's in the Bible or something. I just said it to fob them off. It's been there ever since.»

Keith Richards: «Life». Verlag Weidenfeld & Nicolson, ca. Fr. 46.–

Sonntag, 5. Dezember 2010

Tee im Zug nach Odessa


Von einer resoluten älteren Dame bekommt man unaufgefordert und gratis so ein schönes Teeglas serviert, wenn man im Zug von Riga nach Odessa fährt. Auch heute noch gibt es diese Direktverbindung, der Zug fährt jeden zweiten Tag. Auch das Teeglas stammt aus Sowjetzeiten: es prangen niedliche Sojusraketen auf dem Teeglashalter (podstakannik). Sieht mans auf dem Foto? Leider nicht. Aber ich schwör's, es hat Raketen drauf.

Foto: Bobby California

Dienstag, 23. November 2010

Keith Richards ausschaffen?


Während sich Revisionisten wie Thomas Haemmerli den Kopf darüber zerbrechen, ob man ein schlechtes Gewissen haben muss, wenn man den Gegenvorschlag annimmt (natürlich muss man ein schlechtes Gewissen haben), ist mir etwas Interessantes aufgefallen. In den 70er Jahren galt die Schweiz unter Künstlern als Hort der Freiheit. Vor allem Künstler, die bewusstseinserweiternden Substanzen nicht ablehnend gegenüber standen, schätzten die liberale Haltung der Schweizer Behörden. So sagte der geniale Gitarrist Keith Richards:

«By 1972, about the only country that I was allowed to exist in was Switzerland, which was damn boring for me, at least for the first year, because I didn't like to ski... Nine countries kicked me out, thank you very much, so it was a matter of how to keep this thing together...»

Offenbar war damals wegen der internationalen Jagd auf Rolling-Stones-Mitglieder das Fortbestehen der Gruppe gefährdet.

Nun enthält der Gegenvorschlag eine Bestimmung, die einem Keith Richards zum Verhängnis werden könnte: er sieht nämlich die Ausschaffung wegen eines «schweren Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz» vor (also auch schwere Fälle von Besitz, Anbau, Aufforderung zum Konsum usw). Ironischerweise ist der Gegenvorschlag in diesem Punkt schärfer formuliert als die Initiative, die nur den Drogenhandel als Ausschaffungsgrund vorsieht. Ein Grund mehr, um auch den Gegenvorschlag abzulehnen.

Donnerstag, 18. November 2010

222 Gründe, Heavy Metal zu hassen

Frank Schäfer weiss, was zieht: Die Liste seiner Buchpublikationen zieren so süffige Titel wie «Die Welt ist eine Scheibe. Rockroman», «Petting statt Pershing. Das Wörterbuch der Achtziger» oder «Kultbücher. Was man wirklich kennen sollte» (wo übrigens «La recherche du temps perdu» fehlt, eine unverzeihliche Auslassung). Das neuste Werk von Frank Schäfer trägt den Titel «111 Gründe, Heavy Metal zu lieben». Wieder so ein enorm knackiger Titel. Dazu möchte ich anfügen, dass ich keinen einzigen Grund kenne, aber dafür fallen mir spontan mindestens 222 Gründe ein, Heavy Metal zu hassen, darunter:

- weil sich der Musikstil seit 40 Jahren nicht wirklich weiter entwickelt hat;
- weil nur Männer diese Musik gut finden – oder Frauen, die auf dem Land leben;
- weil die Musiker so fürchterliche schüttere Matten tragen;
- weil die Musiker extrem humorlos sind und auf den Fotos nie lachen;
- weil die Musiker auf den Fotos oft ihre nackten Unterarme verschränken und grimmig dreinblicken, was total lächerlich aussieht;
- weil man mit einer Gitarre viel mehr anstellen kann;
- weil dieser Musikstil ein extrem enges Repertoire von Ausdrucksmitteln aufweist;
- weil diese Musiker und ihre Fans politisch uninteressiert sind;
- weil diese Musik immer grimmig und aggressiv ist, aber nie fröhlich oder geheimnisvoll;
- weil diese Musiker einen überholten Gitarrenfetischismus pflegen, der einen schnurstracks in die Arme von bleichen Electronica-Fricklern treibt;
- weil diese Musiker am liebsten grauenhafte schwarze Lederklamotten tragen;
- weil fast nur Männer diesen Musikstil spielen und Frauen höchstens als Sängerinnen geduldet sind;
- weil dieser Musikstil auf einem total überholten Macho-Diskurs beruht;
- weil schon die Begründer des Genres (Black Sabbath) eine enorm schmale Palette von musikalischen Ausdrucksformen aufwiesen;
- usw.

Dienstag, 16. November 2010

«Moderne Internetmenschen» und die Zeitung

Ein Burgdorfer Werbegrafiker heimste kürzlich massiven Beifall der Blogger-Szene ein. Grund: In einem Blogpost beschrieb er sich als «modernen Internetmenschen», der auf die Lektüre von Zeitungen verzichte. Er sei «nicht mehr von einem Verlagshaus abhängig», weil er sich «sein persönliches Newspaket selber im Internet zusammenstellen könne.»

Halten wir doch wieder einmal fest, wie die Medienwelt funktioniert. Als Beispiel eignet sich die Berichterstattung über die neusten Vorgänge bei der Basler Zeitung. Am Sonntag titelte die NZZ am Sonntag: «Blocher bestimmt Kurs der Basler Zeitung». Mit diesem Bericht löste die NZZ am Sonntag einen kleinen Aufstand der BaZ-Redaktion aus.

Die Medienblogs nahmen den Ball begierig auf:
- der Medienspiegel zitierte die Newsnetz-Meldung (mit Verweis auf die neckische Titelsetzung «Blocher übernimmt die Macht bei der Basler Zeitung»);
- der Journalistenschredder käute die Meldung der ZPV- und Infamy-Blogs wieder, die ihrerseits ebenfalls die Newsnetz-Meldung zitiert hatten (wenn auch mit unterschiedlich gefärbten Interpretationen);
- das Blog Arlesheim reloaded nahm sich immerhin die Mühe, die Vorarbeit der professionellen Journalisten mit einem eigenen Kommentar anzureichern;
- und das Blog buergler.net rechnete hoch, wie viele BaZ-Leser ihr Abo kündigen könnten.

Fazit: Einmal mehr brachte das von den «modernen Internet-Menschen» viel geschmähte Holzmedium die Sache ins Rollen. Die Blogger betätigten sich wie gewohnt als Wiederkäuer.

Geschenkt: Der Bericht der NZZ am Sonntag ist gratis im Netz sichtbar. Man musste die Printausgabe nicht kaufen, um den Bericht zu lesen. Doch wenn alle so denken würden wie der eingangs zitierte Burgdorfer Werbegrafiker, und wenn niemand mehr die NZZ am Sonntag kaufen würde, und wenn das Blatt folglich nicht mehr existieren könnte, dann würde den Medienblogs sofort der Stoff ausgehen. Denn auch diesmal war kein Blog in der Lage, die Enthüllungsarbeit des Holzmediums zu leisten.

Donnerstag, 11. November 2010

Dubo... Dubon... Dubonnet


In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überzogen Reklamemaler die Mauern von französischen Kleinstädten und Dörfern mit Werbung für hierzulande unbekannte ABV (Apéritifs à la base de vin) wie Byrrh und Dubonnet. Einige der legendären Schriftbilder haben bis heute überlebt, zum Beispiel diese Dubonnet-Reklame im verschlafenen Bergnest Brassac.

Foto: Bobby California (click to enlarge)

Mittwoch, 3. November 2010

Desinformiert dank Google

Im August zitierte ich einen klugen Arzt, der warnte, dass Informationen im Internet selten unabhängig von wirtschaftlichen Interessen sind und meistens nicht aktuell. Internet-gläubige Leser wie David protestierten: «Du kannst jeden Arzt fragen den du willst, jeder wird dir bestätigen, dass die Patienten seit dem Internet viel besser informiert sind. Das willst du doch nicht ernsthaft abstreiten?»

Heute erklärt im Tages-Anzeiger ein anderer Arzt, welches die fatalen Folgen sind, wenn die Patienten ihre Informationen nur noch via Google von irgendwelchen dubiosen Internetseiten beziehen:

«Oft wünschen sich Patienten eine Röhrenuntersuchung, also eine Computertomografie oder Magnetresonanz, die den Körper in genauen Details abbildet. Diesen Wünschen muss ich gelegentlich entsprechen, obwohl die medizinische Indikation dafür fehlt. Die Leute haben im Internet nachgeschaut und glauben, das gehöre unbedingt dazu.»

Das sind die Folgen des Internet: Die Kosten des Gesundheitswesens werden unnötigerweise aufgebläht, und Patienten werden unnötigerweise mit krebserregenden Strahlen belastet. Sicher wird David auch das bestreiten...

Sonntag, 24. Oktober 2010

Ich will mein Eau Sauvage Extrême zurück!

Eau Sauvage Extrême von Christian Dior war mein Lieblings-Parfüm. Und das seit Jahrzehnten. Doch irgendwann im Sommer haben Christian Diors Nachfolger die Rezeptur verschlimmbessert. Zuerst dachte ich, der Parfumladen habe mir eine gepanschte Fälschung untergejubelt. Doch es ist zweifellos so: Eau Sauvage Extrême gibt es nicht mehr. Die fade Brühe, die weiterhin unter diesem Namen verkauft wird, hat nichts mehr gemeinsam mit dem genialen Parfum von einst.

Das Tolle am Eau Sauvage Extême war, dass es gleichzeitig fruchtig-frisch und tiefgründig-mystisch roch. Mit keinem anderen Parfum ist es mir passiert, dass mir auf dem Velo eine andere Velofahrerin in voller Fahrt zurief: «Tolles Parfum!» Doch das ist jetzt unwiderruflich vorbei. Das neue Eau Sauvage Extrême riecht wie irgendein billiges, fades, italienisches Wässerchen. Wie Pitralon mit einem Schuss Kölnisch Wasser versetzt. Einfach grauenhaft. Eau Sauvage Extrème kaufe ich nicht mehr.

Falls noch jemand eine Flasche mit der alten Mixtur rumstehen hat und sie nicht braucht, kaufe ich sie für fast jeden beliebigen Preis.

Montag, 18. Oktober 2010

Zwei Gesichter der Suonen

Suonen, die Walliser Wasserleitungen, sind immer gut für eine spannende Wanderung. Was mich dabei besonders fasziniert, ist der jähe landschaftliche Gegensatz, den man beim Abschreiten erlebt. Zuerst der sanfte Weg am sonnigen Hang entlang, mit Schafherden, Weinbergen, saftigem Gras, alten Walliserhäusern undsoweiter:

Tant de balades époustouflantes peuvent se faire le long des bisses, de ces canaux d'irrigation qu'on trouve partout en Valais. Bien souvent, en marchant au bord des bisses, le randonneur est témoin d'un contraire étonnant: D'abord le bisse traverse des prés ensoleillés avec des troupes de moutons aux nez noirs, et parfois des vignes:

Visperi (Nanztal)
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Rohrbergeri (Nanztal)
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Bisse de Sillonin (Vallée de la Liène) 
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Bitscheri (Massaschlucht) 
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Bitscheri (Massaschlucht) 
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Dann macht die Suone einen 90-Grad-Knick und man steht mitten in einer senkrecht abfallenden Felswand. Nur Schwindelfreie gehen weiter. Gefährlich ist es nicht wirklich, aber man sollte schon aufpassen, wohin man seinen Fuss setzt, denn unmittelbar neben der Suone geht es oft 200 Meter hinab, ohne Chance, sich irgendwo festzuhalten:

Ensuite le bisse se tourne brusquement et décrit un angle de 90 degrés. Et tout de suite, le randonneur se retrouve au milieu d'une paroi rocheuse aux pentes vertigineuses. Là il faut être prudent, car immédiatement près du chemin la paroi tombe souvent 200 mêtres vers le fond de la gorge de laquelle la bisse va transporter l'eau vers les prés ensoleillés. Si on tomberait ici, ce serait fini:

Wyssa (Gredetschtal)

Wyssa (Gredetschtal)

Riederi (Massaschlucht) 
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Ladu-Süe (Jolital)

Grand Bisse de Lens (Vallée de la Liène) 
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Fotos: Andreas Gossweiler

Samstag, 9. Oktober 2010

Beissen Blogger die Hand, die sie füttert?

Blogger sind Wiederkäuer: Mein Befund fand ein grosses Echo. Mit vielen Beispielen konnte ich empirisch belegen, dass sich Blogger gern bei den professionellen Medien bedienen, die sie so gern schmähen. Amerikanische Wissenschaftler haben sich mit dem gleichen Thema befasst. Und sie sind zum gleichen Resultat gekommen.

Bryan Murley, Spezialist für Neue Medien an der Eastern Illinois University und Chris Roberts, Medienwissenschaftler an der University of Alabama veröffentlichten die Studie «Biting The Hand That Feeds: Blogs and Second-Level Agenda Setting». Murleys und Roberts' Befunde wurden in Schweizer Blogs unterschlagen, weil sie nicht zum Selbstbild der Blogger passen. Die Arbeit erschien vor fünf Jahren, ist aber immer noch aktuell. Denn was heute in der Schweizer Blogsosphäre abläuft, ist ein Echo dessen, was vor fünf oder zehn Jahren in den USA lief. Murley und Roberts schreiben:

«Blogger sehen sich als fünfte Macht und als Ausgleich zu den sogenannten Mainstream-Medien. Blogger prahlen gerne, sie könnten die politische Agenda beeinflussen, so wie das früher nur die Mainstream-Medien konnten.»

Die Forscher wollten herausfinden, ob dieses Selbstbild den Tatsachen entspricht. Sie untersuchten die 20 beliebtesten US-Blogs – Gawker, Gizmodo, Michelle Malkin und andere – während drei Tagen:

«Die Analyse der Blogs zeigt, dass Blogger oft Inhalte der Mainstream-Medien wiedergeben und Agenda-Setting auf einer zweiten Ebene betreiben. Fast die Hälfte (49 Prozent) der untersuchten Posts haben mindestens einen Link zu einem Mainstream-Medium. Bei politischen Blogs sind es sogar 56 Prozent. Das beweist, dass Blogger stark abhängig sind von den Mainstream-Medien für einen grossen Teil des Lesefutters, aus dem ihre Webseiten bestehen.

Ausserdem entsprechen viele der Themen in den Blogs denjenigen Themen, die vorher oder gleichzeitig in den Mainstream-Medien diskutiert wurden – ob John Bolton als US-Botschafter bei der UNO nomininert werden soll, oder ob der republikanische Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus Tom DeLay sich unethisch verhalten habe. Eine Geschichte der Mainstream-Medien über die Musik in Präsident Bush's iPod wurde gleichzeitig in acht Blogs kommentiert.»

Für die Forscher ist klar:

«Die meisten Blogs hätten wenig zu sagen, wenn sie nicht Themen aus den Mainstream-Medien beziehen könnten.»

Murley und Roberts gingen auch der Frage nach, warum die Blogs so stark abhängig sind von den professionellen Medien. Ihre Antwort lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig:

«Die meisten Blogs stellen sehr wenig eigene Recherchen an. Nur sechs Prozent aller Blogeinträge enthalten selbst recherchiertes Material. Bei Politik-Blogs sind es sogar nur fünf Prozent.»

Das Fazit der beiden Medienwissenschaftler:

«Blogger sehen sich gerne als Instanz, die unabhängig ist vom Agenda-Setting der Mainstream-Medien. Doch in Tat und Wahrheit folgen sie oft Geschichten, die Reporter der Mainstream-Medien ausgegraben haben. Wenn Blogs eine Rolle haben im Agenda-Setting, ist es eine auf der zweiten Ebene – indem sie Geschichten weiter verbreiten, die die traditionellen Medien lanciert haben. Blogger sind stark abhängig von den Mainstream-Medien für einen grossen Teil ihrer Blog-Einträge. Blogger sagen uns, was wir über Themen denken sollen, von denen andere gesagt haben, dass wir darüber nachdenken sollen.»

Weil das so ist, wird auch klar, warum viele Blogger so nervös werden, wenn jetzt professionelle Medien wie das Magazin Paywalls hochziehen: Ihnen droht schlicht und einfach der Stoff auszugehen.

Freitag, 1. Oktober 2010

Die tätowierte Langspielplatte

Tattoo in der Auslaufrille: Die LP «Emitt Rhodes» von – richtig geraten – Emitt Rhodes. (Foto: Bobby California. Click to Enlarge)

Vinylplatten haben viele Vorteile gegenüber CDs und MP3s: Sie sind ein viel sinnlicheres Medium, gehen weniger schnell kaputt, klingen besser und sind schöner verpackt. Und man kann sie tätowieren.

Mir wurde erst heute bewusst, dass ich eine tätowierte Platte besitze. Es ist die erste Soloplatte des amerikanischen Pop-Genies Emitt Rhodes. Nie hat jemand so breitenwirksame Musik gemacht, die so wenig Breitenwirkung hatte. Und deshalb kennt heute kaum jemand noch Emitt Rhodes. Obwohl seine melodiöse, leicht monomanische Musik sicher vielen Menschen gefallen würde.

Hinter dem Tattoo auf Emitt Rhodes' erster Soloplatte verbirgt sich eine menschliche Tragödie. Rhodes war ein Allround-Künstler: Er schrieb nicht nur alle seine Songs selber. Er nahm auch alle Instrumente bei sich zuhause selber auf und sang dazu. Rhodes war kein Virtuose, aber er spielte gut Piano, Gitarre, Bass und auch Schlagzeug. Er amtierte auch als Produzent und Toningenieur. Er ging also ähnlich vor wie Paul McCartney bei seinen ersten Soloalben. Die Musik klingt auch (gelinde gesagt) nicht unähnlich. Doch Emitt Rhodes ist kein Epigone: Er hat seine Soloplatten aufgenommen, bevor Paul McCartney dasselbe tat.

Die Plattenfirma Dunhill nahm Emitt Rhodes 1968 unter Vertrag. Sie zwang dem Multitalent einen absolut katastrophalen Vertrag auf: Dunhill verlangte nämlich von Rhodes, dass er sechs Alben ablieferte – verteilt auf drei Jahre! Emitt Rhodes musste also jedes Jahr zwei LPs aufnehmen, um den Vertrag zu erfüllen. Ein Ding der Unmöglichkeit, wenn man alles selber macht. Rhodes schaffte nur ein Album pro Jahr. Er nahm für Dunhill drei fantastische LPs auf. Dann war er ausgebrannt. Die Plattenfirma hatte ihr Wunderkind ausgepresst wie eine Zitrone – und sie verklagte es zum Dank noch wegen Vertragsbruchs. Nach drei Jahren Arbeit für Dunhill war Emitt Rhodes ein psychisches Wrack, und er ist es heute noch.

Und so kam das dekorative Tattoo auf die Platte: Die Musikergewerkschaft verlangte, dass alle Platten in professionellen Studios aufgenommen werden. Emitt Rhodes lag quer mit seinem Heimstudio. Deshalb durfte auf der Plattenhülle kein Hinweis erscheinen, dass Rhodes die Musik zuhause aufgenommen hatte. Dafür konnte er den Cutting Engineer überreden, ein Tattoo in die Auslaufrille zu ritzen mit dem Text: RECORDED AT HOME.

Mixdown-Engineer der LP war übrigens Curt Boettcher, der ebenso geniale kalifornische Musiker, der diesem Blog den Namen gegeben hat.


Balade dans l'Hérault







Nirgendwo gleicht Frankreich mehr dem Wilden Westen als im Hérault. Die Landschaft ist weit, schroffe Berge am Horizont, alles sieht ein bisschen schäbig und verschlafen aus. Endlose Schlangen von leeren Tankwagen stehen in der Prärie. Die Bahnhofuhr von Paul Garnier Paris zeigt die stehen gebliebene Zeit an. Das Essen in der einzigen Beiz, die offen hat, ist soso-lala, die Bedienung ist freundlich. Der Hérault ist nicht meine Lieblingsregion, hat aber seinen eigenen Reiz.

Fotos: Bobby California

Dienstag, 7. September 2010

Platten mit Randy-Newman-Coverversionen sind gute Platten

Das Vorgehen ist ganz einfach: Man sucht Platten (wenns sein muss, CD's), die Coverversionen von Randy Newman-Songs enthalten. Der Clou dabei ist, dass nur Musikerinnen und Musiker, die sehr geschmackssicher waren – oder wenigstens gut beraten – Newman-Coverversionen aufnahmen. Hier sind einige davon:

Alan Price: «A Price on His Head» (1967)
Das zweite Solowerk des früheren Animals-Organisten enthält nicht weniger als sieben Newman-Kompositionen: das zauberhaft melancholische und selten gecoverte «Come and Dance With Me», die flott arrangierte Abnabelungs-Hymne «So Long Dad», das relativ bekannte «No One Ever Hurt So Bad» mit extrem flottem Bläser-Arrangement, das lustige «Tickle Me», das zauberhaft melancholische «Living Without You», das herrlich dekadente «Happy Land» und das ebenso grossartige «Biggest Night Of Her Life». Dazwischen streute Alan Price Selbstkomponiertes und andere fantastische, geschmackvoll ausgewählte und perfekt eingespielte Coverversionen wie «On This Side Of Goodbye» von Goffin/King. Die Wahrheit ist: Alan Price war ein Singles-Mensch, kein LP-Künstler. Seine LPs wirken wie Zusammenschnitte von Singles. Dennoch lohnt sich der Erwerb dieses Teils sehr. Ich habe dafür an einer Plattenbörse 60 Kröten bezahlt und die Platte ist jeden Rappen wert.

Dusty Springfield: Dusty in Memphis (1969)
Ein Meisterwerk, if there ever was one. Eine LP aus einem Guss. Die Songs bauen einen Spannungsbogen auf, der mich bei jedem Hören wieder erstaunt und Gänsehaut verursacht. Darin enthalten sind zwei Randy-Newman-Songs: das erheiternde «I Don't Want To Hear It Anymore» (über zu laute Nachbarn und «viel zu dünne Mauern»). Begleitet wurde die geniale Sängerin von der Crème de la Crème der Sessionmusiker aus Memphis. Höhepunkte sind nicht die Newman-Nummern, sondern das wohlbekannte und dennoch immer wieder gern gehörte «Son Of A Preacher Man» und das explosive «Don't Forget About Me» (von Goffin/King), wo die Memphis-Musiker richtig loslegen. Seite 2 beginnt mit einer fantastischen Interpretation von Randy Newman's «Just One Smile». Dann ist das Pulver verschossen. Aber was für ein Pulver. Das ist eine der Platten, die in jeden Haushalt gehören.

Everly Brothers: «Roots» (1968)
Als die Everly Brothers «Roots» für die Plattenfirma der Warner Brothers aufnahmen, war ihre beste Zeit schon lange vorbei. Niemand wollte eine solche Platte kaufen. Das Publikum wusste einfach nicht, was es davon halten sollte: Zwei alternde, immer noch buspere Teeniesänger wurden vom genialen Warners-Produzenten (und Newman-Freund) Lenny Waronker auf eine Reise zu ihren «Roots» geschickt. Don und Phil Everly sangen also eine Handvoll geschmackvoll ausgelesener Country-Songs aus der Feder von Merle Haggard, Glen Campbell oder Jimmie Rodgers. Darunter mischte Waronker spacige Steel Guitars, Wah-Wah-Gitarren... und Randy Newmans Song «Illinois». Newman begleitete die Everlys persönlich am Piano. Perlende Arpeggien und trockene Drums unterlegen den Unisono-Gesang. Der Song wirkt inmitten der Country-Songs denkbar fremdartig. Dass die Platte in den Gestellen liegen blieb, ist verständlich. Aber es ist trotzdem ungerecht.

Ella Fitzgerald: «Ella» (1969)
Die legendäre Jazzsängerin war 53, als sie diese Platte aufnahm. Die Auswahl der Stücke zeigt das Bestreben, das Repertoire zu modernisieren. Neben Soul-Songs wie Eddie Floyd's «Knock On Wood» und zwei Beatles-Songs hat Ella Fitzgerald auch zwei Newman-Nummern aufgenommen: das sarkastische «Yellow Man», über den «gelben Mann», der mutmasslich den ganzen Tag lang Reis isst, und das soulige «I Wonder Why». Ellas Stimme wirkt stellenweise ein bisschen corny, sie ist eine grossartige Sängerin, aber keine Soulröhre. Deshalb ist «Ella» keine ganz grosse, aber dennoch eine gute Platte.

Claudine Longet: «Love is Blue» (1968)
Diese Sängerin aus dem Stall des Easy-Listening-Moguls Herb Alpert hat heute nur noch Geheimtipp-Status. Doch diese Platte glänzt (abgesehen vom Gesang) mit solider Qualität. Der Spannungsbogen reicht vom Marlene-Dietrich-Cover «Falling In Love Again» über die Bee-Gees-Schmonzette «Holiday» und Bossa Novas bis zu Randy Newman's «Snow». Es gibt wenige Songs, die den Schnee so treffend beschreiben. Auch Claudine Longets ausdruckslose Stimme und ihr starker französischer Akzent können «Snow» nicht zerstören.

Beau Brummels: «Bradleys Barn» (1968)
Wie viele andere kalifornische Musiker fuhren die Beau Brummels (oder was von der Gruppe übrig geblieben war: Sänger Sal Valentino und Gitarrist Ron Elliott) 1968 nach Nashville. Country-Musik versprach Läuterung nach den psychedelischen Exzessen. Doch Sal und Ron entwarfen eine höchst eigenwillige Variante der Country-Musik. Puristen würden den Kopf schütteln. Das ändert nichts daran, dass diese Platte ganz grossartig gelungen ist. Sie besteht ausschliesslich aus Selbstkomponiertem, mit Ausnahme des letzten Songs auf Seite 2: Randy Newmans «Bless You California», ein furioser, verstörender Schlusspunkt eines ansonsten sehr stimmungsvollen, mal verträumten, mal aufgeräumten Song-Bouquets. Wie im Fall der Everly-Brothers-Platte wirkt Randy's Song hier wie ein faszinierender Fremdkörper. «Bless you California, you're the only state for me... So if I try to leave, please don't follow, cause I ain't really going anywhere.»

Van Dyke Parks: «Song Cycle» (1968)
Die Platte beginnt mit der besten aller Newman-Coverversionen: «Vine Street» in einer abgefahrenen Version mit wunderschönem Orchester und Schifferklavier. Eine genialisch arrangierte Westentaschen-Symphonie. Der Rest von Van Dyke Parks' erstem Opus kommt ähnlich faszinierend schräg rüber. «Song Cycle» ist die angenehmste aller unhörbaren Platten. Die Warner Brothers hatten bemerkenswerten Mut, dass sie sowas veröffentlichten. «Widows face the future, the factories face the poor»: Solche unverständlichen Texte, die Van ersann, brachten sogar Randy Newman zur Verzweiflung. Ich glaube nicht, dass ich diese Platte jemals ganz durchgehört habe. Das würde mich konfus machen. Dennoch möchte ich sie nicht missen.

Eric Burdon & The Animals: «Eric Is Here» (1967)
Eric Burdon liess sich von der Newman-Begeisterung seines Ex-Organisten anstecken: Auf seiner ersten Soloplatte nahm auch er einige Newman-Nummern auf, sie sind die Höhepunkte dieser Platte: Das oft gecoverte «Mama Told Me Not To Come» in einer schön verhallten, ausdrucksstark gesungenen Version. Darauf folgt «I Think It's Gonna Rain Today», auch verhallt, auch ausdrucksstark gesungen. «Human kindness is overflowing, and I think it's gonna rain today.» Einfach schön! Der Regen strömt auf jeden Fall, bei der «human kindness» wäre ich da weniger sicher. Auf Seite zwei findet sich der satirische Newman-Song «Wait Till Next Year». Der Rest fällt ab.

Scott Walker: «Sunshine» (1973)
Dem für düstere Stimmungen bekannten Scott Walker gings gut, als er diese Platte aufnahm. Er lächelt sogar auf dem Umschlag und besingt den «Sunshine». Natürlich nur, um dem Sonnenschein zu sagen, er solle gefälligst verschwinden. Der zweite Song auf Seite 1 ist «Just One Smile», das Scott nicht weniger ergreifend rüberbringt als Dusty. Die Songauswahl ist brillant und umfasst auch «A Woman Left Lonely» der Memphis-Urgesteine Oldham/Penn und Bill Withers' moderat funkiges «Use Me». Eine Platte wie ein goldener Septembertag: Bald wird es düster und kalt, Scott hat das schon immer gewusst, aber noch einmal gilt es, dem Leben ein paar letzte sonnige Momente abzugewinnen. Mit Randy Newman's «I'll be Home» klingt Seite 2 aus.

Freitag, 27. August 2010

Ein kluger Arzt redet Klartext

Immer wieder stimmen die Apostel des Internets das Loblied der grenzenlosen Information an. Sie sei für alle rund um die Uhr gratis verfügbar – dank des Internets. So jubelte ein gewisser «David» im Kommentarfeld des Medienspiegel:

«Das Internet hat mir eine Welt geöffnet, die mir vor 20 Jahren verschlossen geblieben wäre. Ich lese die interessantesten Artikel... ich verpasse die besten Sendungen nicht... ich kann mich dann in ein Thema vertiefen, wenn es mir unter den Nägeln brennt... ich finde Thesen und Meinungen, die nie in der Zeitung stehen würden.»

Zum Glück gibt es auch besonnene Stimmen. Auf kluge Art hat sich der Ostschweizer Arzt Etzel Gysling geäussert – in seinem Fachblatt pharma-kritik. Weil dieses Blatt eine relativ kleine Leserschaft hat, weil Etzel Gyslings Gedanken es wert sind, ein breiteres Publikum zu finden, und weil er Themen anschneidet, die die Internet-Apostel nur zu gerne gerne ausser Acht lassen, fasse ich die wichtigsten Gedanken zusammen. Was Gysling über sein Spezialthema – Arzneimittelinformation im Internet – sagt, gilt sinngemäss auch für alle anderen Themen.

(Un)abhängigkeit
«Das Ideal einer vollständigen Unabhängigkeit von Sponsoren ist verhältnismässig selten gegeben. Finanzielle Unterstützung (und Beeinflussung) seitens der Pharmaindustrie ist offensichtlich das grösste Handicap einer Informationsquelle. Man muss sich jedoch bewusst sein, dass auch andere Sponsoren – Behörden, Berufsverbände, Versicherungen – nicht selten Einfluss nehmen auf das Informationsangebot.»

Aktualität
«Informationsquellen, die wirklich up to date sind, finden sich auch im Zeitalter des Internets nicht in besonders grosser Zahl. Auch leistungsfähige Suchmaschinen wie Google führen uns häufig zu Adressen, an denen nur veraltete oder überholte Aussagen publiziert sind.»

Kostenpflicht
«In der Regel darf bei kostenpflichtigen Angeboten eher mit einer adäquaten Aktualisierung gerechnet werden... Zu den Kosten lässt sich etwas verallgemeinert sagen, dass oft nicht viel taugt, was nichts kostet.»

Anwendung
«Was den Anwendungs-Komfort anbelangt, darf man sich keiner Illusion hingeben. Ohne einen gewissen Aufwand seitens der Anwenderinnen und Anwender bringt auch die beste Adresse keine guten Resultate. Es liegt nicht in erster Linie am Internetzugang (der heute meistens ganz problemlos funktioniert), sondern vielmehr daran, dass man am richtigen Ort die richtigen Fragen stellt. Mit anderen Worten: Man muss sich erstens im Klaren sein, wo überhaupt vernünftige Chancen bestehen, dass man die gewünschte Information findet. Um dann die Informationsquelle optimal zu nutzen, ist es zweitens unerlässlich, dass man mit dem vorhandenen Angebot vertraut ist und auch eine gute Suchtechnik verwendet. Schliesslich ist auch daran zu denken, dass man oft in englischer Sprache suchen muss.»

Fazit: Der Arzt Etzel Gysling wägt in seinem Text sachlich die Vorteile und die Nachteile der Informationsflut im Internet ab. Er sagt auch, wie und wo zuverlässige Informationen auffindbar sind. Der Aufwand, um an diese Informationen heranzukommen, ist aber, wie Gysling zeigt, so gross, dass nur überdurchschnittlich gebildete (Fach-)Leute ihn betreiben können. Der grösste Teil der Menschen ist schlicht überfordert, wenn es darum geht, im Internet die Spreu vom Weizen zu trennen und verlässliche Informationen zu finden. Deshalb ist für die meisten Menschen das Internet keineswegs ein Ersatz für professionell aufbereitete Informationen, wie sie die traditionellen Medien anbieten.

Mittwoch, 11. August 2010

Megablöd


Die Gefühlskonserve ist das Blog des Münchner Kulturtäters Deef Pirmasens. Verglichen mit der Gefühlskonserve sehen die meisten Schweizer Blogs ziemlich alt aus. Deef Pirmasens ist der Blogger, der Helene Hegemanns Plagiat aufgedeckt hat. Von einem solchen Scoop können die Schweizer Blogger nur träumen.

Der Running Gag der Gefühlskonserve sind Fotos von Coiffeursalons mit birnenweichen Namen. Diese Rubrik gefällt mir ausgezeichnet. Deshalb ist es mir eine besondere Ehre, zu beweisen, dass die Schweizer Coiffeure ihren deutschen Kollegen in nichts nachstehen, wenn es gilt, schwachsinnige Namen für ihren Salon zu erfinden. Zwecks Beweisführung kupfere ich Deefs Rubrik ganz einfach ab, oder besser gesagt, ich helvetisiere sie.

Den Anfang macht das Foto eines Zürcher Coiffeursalons mit einem megablöden Namen. Hier zeigt sich archetypisch der Mechanismus, der zu birnenweichen Coiffeursalonnamen führt: Der Name darf mit dem Gewerbe möglichst wenig zu tun haben. Gut ja, der Fön ist ein Werkzeug des Coiffeurs. Aber das Megafon ist es wirklich nicht.

Foto: Bobby California

Dienstag, 27. Juli 2010

Das verpasste Konzert des Jahres


Les Compagnons, Buffet de la Gare, Gijounet (Département Tarn), 28. März.

Dienstag, 20. Juli 2010

Burgunder aus dem Tetrapack


«Auf den Inhalt kommt es an, nicht auf das Medium», schreibt ein anonymer Kommentator im Kommentarfeld dieses Blogs. Und er fügte dieser Platitüde eine weitere hinzu: «Es gibt Zeitungen, die arbeiten genau und seriös. Andere nicht. Bei Blogs ist das genau so.»

Wirklich? Ich glaube, es ist Zeit, dass wir aufhören, auf eine so oberflächliche Weise über Medien zu diskutieren. Es kommt nur auf den Inhalt an, nicht auf das Gefäss: Bei einem guten Burgunder würde niemand auf die Idee kommen, so etwas zu behaupten. Den Burgunder wollen wir aus einer Glasflasche trinken, nicht aus einem Tetrapack und auch nicht aus einer Petflasche. Nur bei den Medien darf man ungestraft sagen, es komme nur auf den Inhalt an, nicht auf das Gefäss. Denn es sind ja schliesslich nur Buchstaben, gell?

Der deutsche Medienwissenschaftler Norbert Bolz begnügt sich nicht mit Oberflächlichkeiten. Er denkt einen Zacken weiter. In einem Interview mit der Zeitschrift Focus sagte er (online nicht zugänglich):

«Nur bei Printmedien sind Reflektiertheit, Distanziertheit und guter Wille zum Stil durch das Medium gesetzt.»


Gemeint ist: Bei internetbasierten Medien, Blogs, Online-News-Seiten und Apps aller Art behindern die Produktionsbedingungen den Willen zur Reflektion und zum Stil.

Nicht dass ich mit allem einverstanden wäre, was Bolz so rauslässt. Aber wo er recht hat, hat er recht. Dass das Medium den Inhalt und die Wahrnehmung beeinflusst, hat schon Marshall McLuhan vor einem halben Jahrhundert gezeigt: The medium is the message. Leider droht dieser Aspekt immer wieder in Vergessenheit zu geraten, wenn über Medien diskutiert wird.

Samstag, 17. Juli 2010

Vrément schwette

Leserinnen und Leser dieses Blogs wissen es: Georges Perec hat in seinem Werk «La Disparition» auf Wörter verzichtet, die den Buchstaben E enthalten. Ein paar Jahre später hat er das Spiel noch um einen Zacken weiter getrieben: Im Roman «Les Revenentes» verwendete Perec nur Wörter mit E. Das war wesentlich schwieriger und ging nur mit einigen Kunstgriffen, wie das folgende Müsterchen verdeutlicht:

Stephen Brewster besse le sleep et révèle les gemmes de ses encêtres: Mezette! le membre est tellement grend qe c'en est vrément éléphentesqe. Mets le schwette, le vrément vrément schwette, c'est qe le mec se l'est grémenté de seelwettes dentelées lesqelles représentent presqe perfètement les Rènes d'Engleterre, de Perse et de Grèce!

Um sein Konzept durchhalten zu können, verwendete Perec etliche englische Wörter, oder er wich auf unorthodoxe Schweibweisen aus:
sleep = slip
grend = grand
qe = que
vrément = vraiment
schwette = chouette
seelwettes = silhouettes
usw.

Mittwoch, 7. Juli 2010

Highlife oder Hell?

«Exile on Main Street» ist eines der besten Rock-Alben. Und es ist, as far as I'm concerned, das beste Album der Rolling Stones. Es enthält keine Hits à la «Brown Sugar» oder «Honky Tonk Women», aber vier Plattenseiten mit unverdünnter Leidenschaft, kompromisslos auf den Punkt gebrachte Musik, brillant gespielt, kurz: «a really soulful record» (Don Was). Der neue Film «Stones in Exile» verspricht, die Entstehungsgeschichte des Albums zu erzählen, das die Stones im Sommer 1971 in einer Villa in der Nähe von Nice aufnahmen, die die Gestapo dreissig Jahre vorher als südfranzösisches Hauptquartier benützt haben soll.

Das gibt's doch nicht, dachte ich, als ich den Film zum ersten Mal sah. Noch und noch kommen in «Stones in Exile» Beteiligte und Zaungäste zu Wort, und alle zeichnen das Bild einer Band, die eine gute Zeit in Südfrankreich verbrachte: «Highlife, wonderful» sei es gewesen, sagt Mick Taylor, eine «unglaublich kreative Periode». «It was pretty cool», meint Producer Andy Johns. Die Stones seien «ganz entspannt» miteinander abgehängt, erzählt Bill Wyman.

Bevor ich mir den Film reinpfiff, hatte ich ein Buch gelesen, das eine ganz andere Geschichte erzählt: «Exile on Main Street – A Season in Hell with the Rolling Stones» des amerikanischen Schreibers Robert Greenfield. Das 2006 erschienene Buch liest sich wie eine Abfolge von Autounfällen, Schlägereien, Drogengeschichten, Promiskuität und Intrigen. Das reine Chaos, eine monatelange Katastrophe. Wenn man Robert Greenfields Worte für bare Münze nimmt, waren die Stones eher eine Bande von gestörten Kriminellen als eine geniale Rockband. Der Film «Stones in Exile» verliert kein Wort über die Autounfälle, Promiskuität und Intrigen. Nun, der Film war koproduziert von Mick, Keith and Charlie.

Wer erzählt die wahre Geschichte? Der Film «Stones in Exile» oder Robert Greenfield? War der Sommer, den die Stones in Südfrankreich verbrachten, eine entspannte, kreative Zeit oder eine Saison in der Hölle?

Keine Ahnung. Und ehrlich gesagt, ist es mir egal. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen. Und bei einer Band, die sich schon immer meisterhaft in Szene zu setzen wusste, ist es nicht so interessant, zwischen Wahrheit und Fiktion zu trennen.

Montag, 28. Juni 2010

Die Wiederkäuer


In einem episch langen Interview auf Rebell Teevau äusserte Ronnie Grob den Satz:

«Blogs sind die neuen Zeitungen.»

Abgesehen davon, dass Ronnies Satz ziemlich anmassend ist – wie will ein Hobbyblogger, der für Gotteslohn und eine Handvoll Kachingle-Cents arbeitet, seine Leistung vergleichen mit einer professionellen Redaktion, die aus dutzenden oder hunderten Leuten besteht: Ein Blick in einige Blogs zeigt, dass Ronnie Grobs Sentenz reines Wunschdenken ist.

Die Wahrheit sieht düsterer aus. Blogs sind nicht die neuen Zeitungen: Blogs sind vielmehr die ALTEN Zeitungen. Denn viele Blogger begnügen sich damit, den Inhalt der Zeitung von gestern (oder vorgestern, oder vor-vor-vorgestern) wiederzukäuen und mit einem launigen Spruch zu garnieren.

Tatsache ist: Wenn es keine Zeitungen gäbe, würden die meisten Blogs innert weniger Tage eingehen – weil sie keine Quellen mehr hätten, von denen sie abschreiben können. Ähnlich katastrophal würde sich für die Blogger die Einführung von Paywalls auswirken. Kein Wunder, sind die Blogger dagegen.

Ein Blick in einige Blogs bestätigt den Befund:

- Ugugu hat am 25. Juni einen Artikel der Zeit wiedergekäut und seither nichts selber geschrieben;

- die «Most Popular Page» im Bugsierer-Blog ist seit Wochen die Tirade gegen den Berner Sprachleitfaden. Die (falsch abgeschriebenen) Informationen dazu stammen aus dem Blick;

- und Ronnie Grob? Sein neustes Blogpost stammt ebenfalls vom 25. Juni. Er hat sich dabei ebenfalls bei einer Zeitung bedient, diesmal ist es der Tages-Anzeiger (wenn die Quelle auch fälschlicherweise als «Newsnetz» deklariert war).

Donnerstag, 24. Juni 2010

Alfred Eschers Herrenbahn versinkt im Grün













Was aussieht wie eine Waldwiese, ist der Schauplatz einer der erbittertsten Wirtschaftskriege des 19. Jahrhunderts.
Mit einigen Eisenbahnkilometern durch Niemandsland zwischen Bülach und Baden wollte Alfred Escher der Nationalbahn das Wasser abgraben. Die Nationalbahn war ihrerseits ein Projekt der Winterthurer Demokraten, die mir ihrer Linie Alfred Eschers «Herrenbahn» den Kampf ansagten. Die wackeren Winterthurer hatten gute Karten: die Nationalbahn besass nämlich die kürzeste Linie zwischen Winterthur und Baden. Grund genug für Alfred Escher, seinerseits eine neue Linie zu bauen, die noch kürzer war. Sobald sie ihren Zweck erfüllt hatte, nämlich die Nationalbahn in den Konkurs zu treiben, war sie nutzlos. 1937 legten die SBB die Linie still, 1969 wurde sie grösstenteils abgebrochen. Bis vor einigen Jahren wurden hier die Eisenbahnwagen des Zirkus Knie abgestellt. Doch seit Knie nicht mehr die Bahn benützt, wird Alfred Eschers Nationalbahn-Konkurrenzlinie immer grüner. Bald wird man davon nichts mehr sehen.

Dienstag, 15. Juni 2010

Klein Hollywood am Vierwaldstättersee


Es gibt einen Ort in der Innerschweiz, der fast so glamourös ist wie Hollywood: In Fürigen steht ein grosser Schriftzug im steilen Hang, der für das gleichnamige Hotel wirbt und der stark vom berühmten Hollywood-Sign beeinflusst ist. Zwar hätte der Schriftzug wieder mal eine Auffrischung nötig. Die Tüpfchen über dem U sind abgekippt. Und das R steht bedenklich schräg in der schönen Landschaft. Jetzt liest sich der Schriftzug F U R I G E N. Prächtig sieht er aber immer noch aus. Die Fotos zeigen die weniger glamouröse Rückseite der rund 4 Meter hohen Buchstaben.

Ob das Hotel Fürigen sich die Renovation seines Signs leisten wird, ist völlig offen. In der Zeit des Internets ist die Werbewirkung des Schriftzugs, der nur vom Vierwaldstättersee aus sichtbar ist, nicht mehr so wichtig. Neben dem Sign steht eine alte, wunderschöne Standseilbahn, die seit vier Jahren nicht mehr fährt. Auch hier spart sich das Hotel die Kosten für die Instandstellung. Was auch jammerschade ist.

Samstag, 5. Juni 2010

Aufruhr am Zebrastreifen



Die Stammtische schäumen. «Sprach-Irrsinn» zetert der Blick, und auch Tagi-Redaktor Daniel Foppa spricht von «höherem Blödsinn.» Was ist passiert, das den Blutdruck der Schweizer Männer stärker hinaufjagt als gierige Abzocker und bärtige Islamisten?

Alles nur, weil die Berner Fachstelle für Gleichberechtigung einen neuen Sprachleitfaden für die Stadtverwaltung veröffentlicht hat. Die Fachstelle schlägt unter anderem vor, dass die Verwaltung «Zebrastreifen» statt «Fussgängerstreifen» schreiben soll. Berner Machos, die nicht bei der Stadt arbeiten, dürfen selbstverständlich weiterhin Fussgängerstreifen sagen. Die Burgdorfer Machos dürfen auch. Apropos Fussgängerstreifen: In Österreich sagt man «Schutzweg». Ist euch das vielleicht lieber?

Der Sprachleitfaden enthält weitere Vorschläge für geschlechtsneutrale Begriffe wie «Lernende» (statt «Lehrlinge») und «Mitarbeitende» (statt «Mitarbeiter»). Begriffe, die andernorts selbstverständlich sind. Warum also die grosse Aufregung? Keine Ahnung. Zebrastreifen ist doch nicht so schlimm. Es gibt zudem gute Gründe für eine geschlechterneutrale Sprache. Denn unsere Sprache bestimmt unser Bewusstsein.

Der Sprachwissenschaftler Benjamin Lee Whorf zeigte, dass wir so denken, wie wir reden. Whorf hat die Sprache der Hopi mit der englischen Sprache verglichen. Er stellte dabei grundlegende Unterschiede fest. Die Hopi kennen zum Beispiel nur ein Wort für Insekten und Flugzeuge. Aber die Unterschiede gehen tiefer. Die Sprache der Hopi bezieht sich nicht wie unsere auf die Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft). Stattdessen unterscheiden die Hopi zwischen dem Manifestierten, Objektiven (alles, was unseren Sinnen zugänglich ist) und dem sich Manifestierenden, Subjektiven (alles, was nur im Bewusstsein existiert, auch die Zukunft).

Whorf ist überzeugt: «Die Formulierung der Gedanken ist kein unabhängiger Vorgang – sie ist von der Grammatik jeder Sprache beeinflusst.» Und: «Ein Wechsel in der Sprache kann unsere Auffassung des Kosmos umformen.»

Update 1: Der Burgdorfer Polteri-Blogger Bugsierer hat dem Thema auch ein Blogpost gewidmet, in dem er es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt: «an stelle von vater oder mutter soll der verbeamtete menschling jetzt von elternteil oder – kein witz – das elter sprechen.» Und Frau Zappadong plappert Bugsierers Gegeifer frischfröhlich nach. Dumm nur: Die künstliche Einzahlform «Elter» kommt im Berner Leitfaden überhaupt nicht vor. Das Beispiel zeigt einmal mehr, wie locker manche Blogger mit den Fakten umgehen. Und Bloggerinnen auch.

Update 2: Man sollte auch das Positive betonen. Es gibt auch zwei andere Blogger, die nicht der Hysterie verfallen sind: die Lautsprecherin und Andi Jacomet. Jetzt sind wir schon drei.