Sonntag, 20. Februar 2011

Marc Augé und die «Übermoderne»

Tageszeitungen informieren heute kaum mehr über interessante Neuerscheinungen. Nur die NZZ erwähnte beiläufig in einem Feuilleton-Artikel, dass das Standardwerk «Nicht-Orte» des französischen Anthropologen Marc Augé jetzt deutsch übersetzt wieder erhältlich ist. Bevor Marc Augé in seinem Buch erklärt, was «Nicht-Orte» (non-lieux) sind, beschreibt er das Konzept der «Übermoderne» (surmodernité). Die Übermoderne, wie sie Augé versteht, ist die «Kehrseite der Postmoderne». Unsere Zeit ist für den Anthropologen gekennzeichnet durch ein Übermass an Zeit (surabondance événementielle), ein Übermass an Raum (surabondance spatiale) und eine grassierende Individualisierung (individualisation des références):

- Die Geschichte beschleunigt sich. Epochen, die immer weniger weit zurückliegen, werden musealisiert – nach den 60er und 70er Jahren auch die 80er und 90er. Gleichzeitig erleben wir eine immer grössere Zahl von unvorhersehbaren Ereignissen wie der Fall der Berliner Mauer oder – aktuell – die Aufstände in arabischen Ländern. Diese «Überfülle der Ereignisse» macht es laut Augé schwierig, unsere Zeit zu denken.

- Als Korrelat zur Verkleinerung des Planeten konstatiert Marc Augé ein «Übermass an Raum». Die Verkehrsmittel werden immer schneller, die Distanzen scheinen immer kürzer zu sein. Am Fernsehen sehen wir Ereignisse vom anderen Ende der Welt. Als Folge dieses «Übermasses an Raum» sieht der französische Wissenschaftler eine Vermehrung von «Nicht-Orten». Darunter versteht er sinnentleerte Orte wie Autobahnen, Flughäfen, Einkaufszentren oder Flüchtlingslager (mehr dazu in einem späteren Blogpost).

- Das dritte Thema der Übermoderne ist laut Marc Augé die zunehmende Individualisierung, oder besser gesagt, die zunehmende Wichtigkeit der «individuellen Sinnproduktion», wie der Anthropologe es ausdrückt.

Paradox an dieser Entwicklung ist für Marc Augé:

«Im selben Augenblick, da die Einheit des irdischen Raumes denkbar wird, verstärkt sich auch der Lärm der Partikularismen, all derer, die für sich bleiben wollen, oder derer, die nach einem Vaterland suchen, als wären der Konservativismus der einen und der Messianismus der anderen dazu verdammt, dieselbe Sprache zu sprechen: die des Bodens und der Wurzeln.»

Welche Folgen sich daraus für die Politik ergeben, lässt Marc Augé offen. Für ihn ist jedoch klar:

«Die Welt der Übermoderne hat nicht dieselben Masse wie die Welt, in der wir zu leben glauben, denn wir leben in einer Welt, die zu erkunden wir noch nicht gelernt haben. Wir müssen neu lernen, den Raum zu denken.»

Marc Augé: Nicht-Orte. Verlag C.H. Beck 2010.